Es ist der 28. Juli. Das Telefon spielt seine Anruf-Melodie. Schon wieder. An der Vorwahl lässt sich erahnen, dass ich in spätestens einer Minute eine Familie enttäuschen muss. Schon wieder.
„Halloooho, Bergmann mein Naaameeee!“, singt eine weibliche Stimme am anderen Ende des Funkkanals, „Wir sind aktuell auf der Suche nach einer Unterkunft für zwei Erwachsene und zwei Kinder. Und da sind wir auf Ihrer Seite gelandet. Und weil das so schön aussieht da alles, dachte ich, ich ruf‘ da mal an und frage mal nach.“
„Es freut mich, dass Sie uns gefunden haben.“ antworte ich, „Für welchen Zeitraum suchen Sie denn eine Unterkunft?“
„Jaaaaa, das ist jetzt alles etwas kurz f r i s t i g…“ zerhackt sie die Vokabel und endet in einer harten Betonung auf dem „g“, „… aber eigentlich schon ab nächste Woche…“
Ich lache. „Ha! Der war gut!! Nee, mal ehrlich: Suchen Sie tatsächlich ab nächste Woche eine Unterkunft hier an der Küste?“
Sie versucht es nochmal mit niedlich klingen: „Hmmmm, ist nicht so gut, ne? Aber können Sie denn da gar nichts machen? Is zu kurzfristig, ne? Das sieht doch alles sooo schööön aus bei Ihnen da auf auf den Bildern…“
„Schön, dass Ihnen unsere Bilder gefallen. Aber Ostholstein ist schon seit Wochen vollkommen ausgebucht und selbst in unserem Bekanntenkreis hat derzeit niemand etwas frei.“
„Also geht da wirklich nix, oder??“
„Jetzt haben Sie mich gleich weichgeklopft.“ lache ich. „Ich überlege gerade, ob ich schnell ins Dänische Bettenlager fahre, vier Betten einpacke und die in unserer Garage aufstelle. Dann bestelle ich noch rasch ein Dixi-Klo und Duschen müssten Sie dann allerdings unterm Gartenschlauch.“
„Ich find die Idee gar nicht so schlecht.“ sinniert Frau Bergmann. „Aber ich will Ihnen da jetzt auch gar keine Umstände machen. Vielleicht klappt es ja ein anderes Mal. Das sieht ja wirklich sooo schööön aus…“
Mir fällt ein Stein vom Herzen, als das Gespräch beendet ist. Telefonate dieser Art führe ich derzeit täglich. Mitunter sogar mehrfach täglich. Und ganz ehrlich: Mir tut es wirklich immer wieder leid. Da haben die Leute vor lauter Corona-auf-und-ab-und-lockdown-und-Impfchaos-und-Unsicherheit so lange mit der Urlaubsplanung gewartet. Und jetzt fühlen sie sich endlich sicher genug, dass sie sich eine kleine Auszeit gönnen wollen und schon ist alles ausgebucht. Andere waren mutiger. Sie haben frühzeitig reserviert und einfach darauf gesetzt, dass es schon irgendwie klappen wird. Sie sollten recht behalten.
Nach Corona wird alles anders. Oder auch nicht.
Im Sommer 2020 haben wir viele Gespräche mit unseren Gästen und Freunden geführt. Diese Gespräche waren anders, als in den Jahren zuvor. Überall schwang so etwas mit wie Wehmut – aber auch einer gewissen Hoffnung. Irgendwann sagte mal ein Gast, er würde einfach mal gerne wieder jemanden zur Begrüßung umarmen. Wann werden wir das mal wieder ganz unbeschwert tun, fragte er sich. Doch ganz häufig hörten wir auch Dinge, die den Leuten gewissermassen eine neue Zuversicht vermittelten. Vielleicht würden wir uns alle ja jetzt mal wieder mehr alter Werte und Traditionen besinnen. Nicht mehr große Mega-Events feiern. Mehr so das kleine Miteinander. Gute Gespräche. Gutes Essen. Zusammenhalt. Ehrliche Kontakte. Urlaub vor der eigenen Tür. Deutschland und die Menschen in Deutschland entdecken.
Im Sommer 2021 kommen die ersten Gäste. Großstädter. Solche, wie wir selbst. Die, die einfach mal dieses Geschwür Großstadt hinter sich lassen wollen. Raus in die Natur. Aufs Land. Dahin, wo Menschen noch Menschen sind. Da, wo es morgens nach Mist riecht statt nach Abgasen, wenn man das Fenster öffnet. Dort, wo hin und wieder ein Traktor vorbei knattert, wo Hähne krähen und Kühe blöken. Ja, da wollen sie hin. Und dann steigen sie aus dem Auto, saugen die Luft ganz tief ein. Das Auge schweift übers Land und durch unseren Garten. Habt Ihr es schön hier!!! Das ist ja ein richtiges Paradies!! Ihr hab das richtig gemacht. Weg aus Berlin. Hier ist es richtig.
Sie streifen dann erstmal durch den Garten, naschen Beeren, berühren Rosen. Ich sehe, dass es ihnen gut tut. Ich freue mich zu beobachten, wie sie den lästigen Grauschleier der Stadt abstreifen und in diesen Sehnsuchtsort eintauchen.
Von Nachhaltigkeit, guten Vorsätzen – und Ostholstein.
„Du, sag mal Jens…“, fragt Nadine, „… gibt es hier irgendwo eine nachhaltige Fleischerei? Ich meine nur… Wir haben gesehen, dass ihr einen Grill habt. Aber wenn wir da etwas draufpacken, dann sollen es die Tiere wenigstens vorher gut gehabt haben.“
Ich bin ja nun schon ein paar Tage länger hier. Und ich kann mir richtig gut vorstellen, wie die Ostholsteiner Landbevölkerung auf so eine Städter-Frage reagiert. Die Fleischerin aus dem Dorf wird mit dem Thema völlig überfordert sein. Nicht, weil sie keine Ahnung von ihren Produkten hätte. Sie kennt auch jeden Landwirt in der Umgebung, von dem sie die Tiere bezieht. Aber hier fragt niemand danach, ob das Rind die Weide und den blauen Himmel mochte – oder ob es nicht vielleicht doch lieber Teil einer chilenischen Herde gewesen wäre. Wenn du in Ostholstein in die Fleischerei kommst und fragst, ob sie Fleisch aus nachhaltiger Tierhaltung hätten, lautet die Antwort: „Wir hätten Lammkoteletts im Angebot.“ Wenn Du dann noch einmal nachfragst und etwas weiter ausholst, wird die Antwort lauten: „Oder Pute. Haben wir heute ganz frisch reingekriegt.“ Und dann kauft Nadine die Putensteaks, legt sie auf den Grill und findet sie großartig. Als Beilage gibt es Mais. Von Lidl.
Markus kommt aus Stuttgart. Er ist total begeistert, was für eine tolle Landschaft das hier ist. Diese sanften Hügel und die schmalen Straße dazwischen. „Ich hätte mir nie vorstellen können, dass mir die Gegend soo gut gefällt!“ Markus hat sich einiges vorgenommen. Er will joggen. Gleich morgen früh geht’s los. Ob ich eine gute Strecke kenne. Nachdem wir uns darauf verständigt haben, dass 6,5 Kilometer eine gute Strecke seien, erkläre ich ihm den Weg.
Ich mache morgens meine Runde mit dem Hund. Um halb acht geht’s los. Etwa anderthalb Stunden bin ich unterwegs. Von Markus keine Spur. Als ich zum Haus zurück komme, ist in der Ferienwohnung noch alles ruhig. Ich grinse in mich hinein. Der vollautomatische Knecht zaubert mir einen Kaffee. Das Müsli steht schon zubereitet auf dem Gartentisch. Nach einer halben Stunde grüßt Markus mit verknarzter Stimme durch die Hecke. „Na…,“ frage ich, „… geht’s jetzt auf die Piste?“ Markus druckst etwas herum, während seine Freundin hinter seinem Rücken frech grinst und heftig mit Daumen nach unten gestikuliert. In den folgenden zwei Wochen grüßt das Murmeltier. Täglich. Markus nimmt seine Laufschuhe wieder mit nach Hause. Sie sind nagelneu. Eigentlich könnte er sie direkt wieder umtauschen. Aber Markus und Christina hatten einen großartigen Urlaub. Sie sind extrem erholt und haben eigentlich gar keine Lust, wieder nach Hause zu fahren.
Der eine kann loslassen. Der andere nicht.
Vor ein paar Tagen sind André und Jessica aus Berlin angereist. Ihre erste Unternehmung bestand darin, die Schuhe auszuziehen und barfuß durch den Garten zu laufen. Endlich mal über eine Wiese schlendern, ohne Angst haben zu müssen, dass man in eine Scherbe latscht. Ja, auch das ist Hobstin. Kein Vergleich zum Tiergarten. Jessica träumt auch schon lange davon, endlich mal die Stadt hinter sich lassen zu können. „So, wie Ihr hier lebt, so würde ich auch gerne leben!“ Sie will sich das ganz genau anschauen hier. Mal durchs Dorf schlendern. Mit den Leuten ins Gespräch kommen. Herausfinden, ob das ihr Ding sein könnte. Jeden Tag leuchten ihre Augen. „Die grüßen hier immer alle so nett. Die sind ja total aufgeschlossen! Mann, habt Ihr es gut hier!“. Am nächsten Tag klingelt das Telefon. Eine Dame vom Tierschutz brabbelt irgendwas von einer Meldung bezüglich einer Katze. Nö, kann nicht von mir gekommen sein. Wir haben nur einen Kater und dem geht’s blendend. Um den ginge es wohl auch nicht, antwortet Frau Tierschutz. Eine Jessica sowieso hat sich gemeldet wegen einiger Katzen bei einem Bauern, die nicht so gut aussähen. Aber man könne da nicht so ohne Weiteres etwas machen, solle ich ihr ausrichten.
Das ist minimal gut, lasse ich Jessica wissen. Es wäre eine schöne Option, den Bauern persönlich anzusprechen und Hilfe anzubieten, sinniere ich. Jessica spult ihr gesamtes Tierschützer-Programm herunter und klärt mich auf, welche Haltung von Katzen artgerecht sei und was die Leute hier alles falsch machen. Ich bleibe ostholsteinisch entspannt und schlage ihr vor, noch einmal zu überdenken, ob sie wirklich in so einem Dorf leben möchte. Das könnte unter Umständen ganz schön stressig werden für sie. Und für die Bauern. André genießt derweil entspannt seine Ferien, faulenzt auf der Liege, kaut Bockwürstchen und trinkt Bier aus der Dose.
Schön. Herrlich. Genuss.
Gerd und Anna kommen aus Nürnberg. Sie waren letzten Sommer schon einmal hier. Eine Woche ist viel zu kurz. Das war ihr Fazit im letzen Juli. Deshalb haben sie jetzt direkt mal zwei Wochen gebucht. Als sie aus dem Auto steigen, höre ich nur Vokabeln wie „schön“, „herrlich“, „genießen“, noch dreimal „schön“ und noch mindestens ein weiteres „Herrlich“. Gerd hat von daheim schon einen Strandkorb gebucht. Für die ganzen zwei Wochen. In Rettin. „Da hast Du uns ja letztes Mal hingeschickt und das hat uns so gut gefallen dort.“ 10 statt 17 Euro pro Tag. Hat Gerd runtergehandelt. Der Strandkorb steht erste Reihe. Herrlich. Schön. Genießen. Sie haben sich ja sooo viel vorgenommen. Es muss ja nicht jeden Tag der Strand sein. Wenn man mal ’nen Tag nicht hingeht, ist das auch ok. Aber es scheint jeden Tag die Sonne. Anna muss an den Strand. Gerd sagt, er müsse auf das Ding aufpassen. Auf den Strandkorb. Herrlich!! Schön!!! Gerd und Anna haben fabelhafte zwei Sonnenwochen gehabt. Sie fahren nach Hause und schicken direkt eine Mail. Es war ja so herrlich, so schön, sie konnten genießen. Sie kommen wieder.
Von Familien und wer da den Ton angibt
Tim kommt dieses Jahr mit seinem Bruder. Der ist erst zwei Monate alt, betont Tim, indem er zwei Finger in die Höhe reckt. Tim (5) ist Hobstin-Profi. Er war letzten Sommer dreimal hier. Er kennt schon alles. Daher parkt er sein Pucky-Fahrrad auch gezielt vor der Haustür. Das sei der beste Platz, weil er es dann immer im Blick hat und auch mal sofort losfahren kann – wenn’s sein muss. Er radelt beinah jeden Tag mit Raimund. Wenigstens durch den Garten.
Jetzt kann er sich nochmal richtig erholen, sagt Tim. Nach dem Urlaub geht es ja direkt mit dem Schwimmkurs los. Ob er er sich darauf freut, will ich wissen. Ahhh, na ja, da muss man wohl in tiefes Wasser, wo man nicht mehr stehen kann. Da ist er sich noch nicht so sicher, ob er sich freuen soll. Ich versuche ihn zu ermutigen. Schließlich kommt er ja im September noch einmal nach Hobstin und dann will ich mit ihm in die Ostsee gehen. Zum Schwimmen! Ob er er sich noch immer vor dem tiefen Wasser fürchtet, frage ich zwei Strand-Tage später. „Was soll’s!“ sagt Tim und hebt die Arme „Irgendwie muss man da ja wohl durch, wenn man Schwimmen lernen will!“ Diese Zuversicht lässt mich hoffen. Hoffen, dass es doch noch eine Generation Z gibt, die etwas bewegen will. Statt Tagebuch zu führen, hat Tim Bilder gemalt. Jeden Tag mindestens eins. Ich bin beeindruckt von seiner sicheren Ausdrucksform. Mama und Oma sind stolz. Wir alle freuen uns auf ein Wiedersehen im September.
Die Dörners haben schon ziemlich früh gebucht. Zwei Erwachsene, zwei Töchter in vorpubertärem Stadium. Die Mädels steigen aus dem Auto und übernehmen die Führung. Zack zack ist klar, wer welches Bett bekommt. Küche? Cool!! Ist ja voll perfekt. Gut denke ich, die Mädels haben alles im Griff. Mama und Papa sind noch etwas geschlaucht von der Anreise. Aber das wird sich legen. Am nächsten Tag unterhalten wir uns. Lange. Kommen von einem Thema zum nächsten. Es ist total kurzweilig. Und immer wieder kommen wir auf Ziele in der Umgebung, die für die Familie interessant sein könnten. Mutter Dörner notiert sofort alles in ihr Handy. Nach drei Tagen haben sie gefühlt mehr erlebt, als wir in einem Monat schaffen. Die Dörners sind jeden Tag endlos zufrieden. Kein Tag bleibt ungenutzt. Abends fallen alle vier geplättet aufs Sofa und nur wenig später ins Bett. Die Dörners sind so eine Familie, die vermutlich immer als Vorlage für ZDF-Spielfilme hergenommen werden. Alles ist harmonisch. Schön, so etwas zu sehen. Schön, die Dörners hier zu haben.
Hobstin ist schon ein toller Ort. Vor allem ist es spannend zu sehen, was dieser Ort mit den Menschen macht, die hier ihre Ferien verbringen. Es ist noch niemand gerne abgereist. Das tut gut.
Übrigens: Die Namen in diesem Anekdoten-Kompott sind natürlich geändert. Muss so sein. Auch, wenn die echten schöner klingen würden. Und vielleicht auch manchmal die Charaktere besser beschreiben würden 😉